Wirklich?

Als ich den Biergarten der Limobar betrete, stelle ich fest, dass sich die meisten Menschen an den Frühling gewöhnt zu haben scheinen: Sie sitzen in kurzen Hosen, Sommerkleidchen und T-Shirt rum, als hätten sie das ganze letzte halbe Jahr nichts anderes gemacht. Ich habe mich noch nicht an den Frühling gewöhnt, was mich hochgradig unleidlich sein lässt. Suza sitzt an unserem Tisch und hat lässig die Beine auf einem Stuhl abgelegt. Sie scheint sich nicht nur im Frühling angekommen, sondern auch wie zu Hause zu fühlen.
„Na, Maus?!“, sagt sie zur Begrüßung.
„Spar dir das mit der Maus! Leihst du mir deine Katze?“, erwidere ich.
Suza sieht mich fragend an. Ich erkläre: „Ich komm‘ mit dem Frühling nicht klar. Da sitze ich den ganzen Tag an meinem Außenstellendraußenarbeitsplatz auf dem Balkon und komme zu nichts!“
„Warum? Weil du nichts siehst, weil in dieser ach, so modernen Welt die Bildschirme immer noch eher Spiegel als Benutzeroberfläche sind bei Sonne?“ Suza grinst mich frech an und hat zumindest ein Problem erkannt. Schlimm genug, sich am Morgen erst einmal selbst beobachten zu müssen, wie man versucht, die Buchstaben der zu beantwortenden Mails zu entziffern und dann kommt auch noch mehr Natur dazu: Die Vögel haben sich auch an den Frühling gewöhnt und fliegen halsbrecherische Flugmanöver, nur um einen von der Arbeit abzuhalten und Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Und ich habe noch ein ganz anderes Problem, was ich Suza kommentarlos auf einem Photo zeige:
maus„Oh.“ Suza ist entzückt. Ich nicht. Einer freilebenden Maus auf dem eigenen Balkon – also praktisch im eigenen Büro – mit dem Photohandy so nah kommen zu können, sagt auf der einen Seite aus, dass ich mir sehr viel Zeit dafür genommen und verplempert habe, aber auch, wie dreist und furchtlos dieses Kerlchen ist. „Es ist ein Mäusemann und zwei halbstarke Nachwuchsmäuse, die charakterlich voll nach ihm kommen, hat er auch dabei. Die sind mir den ganzen Tag um die Füße gewuselt!“
Suza muss lachen. „Jetzt siehst du schon Mäuse! Sag Bescheid, wenn es rosa Elefanten sind. Dann helfe ich dir!“
„Leih mir deine Katze!“, wiederhole ich eindringlich.
„Mone, meine Katze würde noch nicht einmal bemerken, wenn eine Maus auf ihrer Nase Tango tanzt. Und selbst wenn, es würde sie vermutlich nicht kümmern, zumal sie außerdem die Philosophie vertritt, dass sich eine Spezies nicht über die andere zu stellen hat!“
Suzas Aussage enttäuscht mich, aber vermutlich hat sie Recht: „Was mache ich denn jetzt? Ich kann doch nicht den ganzen Tag Tiere beobachten, nur weil sie alle meinen Balkon mit mir teilen wollen. Ich habe keine einzige Mail am Stück schreiben können. Ständig greife ich zur Flasche, mit Sprühaufsatz und Seifenwasserfüllung und verteidige mich damit gegen Angreifer. Entweder gegen eine Laus, die ich auf der einen komischen grünen Pflanze entdeckt habe, die keine Yucca-Palme ist und in die ich alles für den Ausbau meiner gärtnerischen Fähigkeiten setze oder gegen eine Wespe, die dann klitschnass und gekränkt von dannen surrt. Dann unterbricht mich wieder ein FappFlappFlapp einer kehrtwendenen Taube, also muss ich gucken, ob ich lieber den Kopf einziehen sollte und eigentlich bin ich froh, dass ich endlich hier bin, weil ich sonst gleich die ersten Abendausflüge der Fledermäuse beobachten müsste. Ich wünschte, es wäre wieder Winter.“
„Tja, das Leben ist hart, was?“ Suza scheint mich nicht ernst zu nehmen. Im Gegenteil: „Das ist alles deine Wahrnehmung, Mone!“
„Wieso Wahrnehmung? Die Mäuse waren da!“
„Jaaaaa“, sagt Suza. „Aber du nimmst das alles zu hochsensibel wahr! Guck mal da oben auf die Wolken. Was siehst du?“ Suza zeigt in den Himmel, mein Blick folgt ihrem Finger und die Antwort sogleich: „Das ist ein fliegender Meerjungfrauenbär, der mit seinem Kumpel, dem Dugong, auf dem Weg ist, sich in Heißluftballons festzubeißen. Im Hintergrund dreht sich ein Einhorn mit Fönwelle nach ihnen um, vermutlich, weil es noch nie ein Dugong gesehen hat.“  Suza grinst. Es ist ein „Siehste!-Grinsen“ Ich ziehe fragend die Schultern hoch: „Wieso, was siehst du?“ Suza lässt sich etwas Zeit für die Antwort und kostet meine Ungeduld aus: „Drei Wolken.“
Ich grumpfe. „Und?“, frage ich.
„Na, nix“, antwortet Suza. „Ist nur so, dass Menschen unterschiedliche Wahrnehmungen haben.“
„Aber die Maus war echt! Und nicht weiß! Und wer sagt, dass die Wolken nicht in aller Realität ein Abbild eines Meerjungfrauenbärs, eines Dugongs und eines Einhorns sind!“ Suzas schlaues Gerede macht mich langsam ein wenig wütend. Und es hört nicht auf:
„Manche meinen sie hätten etwas sehr gut gemacht, andere betrachten es und sehen das genaue Gegenteil. Du siehst ein Einhorn, andere einen Tanklaster. Jeder hat seine eigene Realität.“ Jetzt langsam wird es mir zu bunt: „Suza, was in aller Welt willst du mir damit sagen?“ Suza druckst ein wenig herum, dann rückt sie endlich raus mit der Sprache:
„Ich weiß dir hat er besonders gut gefallen, aber ich fand deinen letzten Blogeintrag richtig scheiße!“
Die Worte wirken ein wenig nach, dann muss ich herzlich lachen. Zwischen dem Lachen versuche ich ein paar Worte hervor zu bringen: „Die Laus ist dir also über die Leber gelaufen! Und das traust du dich nicht, einfach zu sagen? Die ganze Woche schon nicht?! Seit wann denkst du, dass ich denke, dass dir alles gefallen muss, was ich mache?“ Suza schmunzelt ein wenig mit. Und ich ergänze: „Du kannst doch total viel scheiße finden, von dem, was ich mache. Solange du ehrlich und gut zu mir bist!“
Suza nickt und wirkt etwas erleichtert. Sie fragt: „Meinst du das „gut sein“ in deiner Realität oder in meiner?“ Bevor mir das alles zu kompliziert wird, erwidere ich: „Na, da dürften wir uns wohl in der selben Welt der Realitäten befinden, oder?“ Und das empfinde ich auch so. Sonst wäre Suza nicht meine allerbeste Freundin. Vermute ich.

„Apropos … Realität!“, fällt es mir nun ein. „Gab es in diesem Hause nicht auch mal einen Wirt. So in Echt. So einen realen, der einem wirkliche Getränke bringt?“ Suza sieht sich mit mir zusammen um und wir entdecken Hubert am Rande des Biergartens. Er schaut verträumt in den Himmel und betrachtet die vorbeiziehenden Wolken. In der Hand hält er ein paar Blümchen, die er für die Tische gepflückt hat und streichelt liebevoll die bunten Blüten. Er scheint den Frühling zu genießen und ich beschließe, es ab nun auch zu tun. Vorausgesetzt, ich bekomme hier irgendwann noch was zu trinken. Eine Sache liegt mir noch auf dem Herzen und ich wende mich wieder Suza zu: „Willst du, dass ich dich aus dem Blog raus nehme?!“
Suza schüttelt den Kopf: „Quatsch! Ist doch alles nur Fiktion!“
„Zum Glück!“, ergänze ich. „Sonst müssten wir wirklich irgendwann diese zwei Doppelten trinken!“ Suza schüttelt angewidert den Kopf. Ich grinse und schaue mir noch einmal die Wolken an. Jetzt sehen sie ganz anders aus.

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