Jeder Jeck

Ich sitze in der Limobar und warte auf Mone. Sie ist nicht zu spät. Ich bin zu früh. Eigentlich ist sie niemals zu spät. Ich habe mir aber angewöhnt, immer eher da zu sein.  Mone betritt meist völlig hektisch und aufgewühlt den Raum, weil sie denkt, sie sei unpünktlich. Das ist ihr gemeinhin so unangenehm, dass sie umgehend versucht, ihre vermeintliche Verspätung zu überspielen und sofort los babbelt. Dabei sieht sie nicht auf die Uhr, bemerkt nicht, dass sie gar nicht zu spät ist und ich lasse sie schmunzelnd in dem Glauben. Es funktioniert. Solange ich warte, kann ich außerdem über das ein oder andere nachdenken, mal zur Ruhe kommen und den Trubel der Welt aus meinem Kopf verbannen. Heute allerdings fällt es schwer. Eigentlich ist es unmöglich. Ich sehe an mir herunter und sehe Stofffetzen, überdimensional große und störend bunte Schuhe und bei der Übersprunghandlung, mir die Sorgenfalten aus dem Gesicht zu streichen, bleiben meine Finger in klebriger Schminke hängen. Karneval. Meine Perücke juckt, während die Bar sich immer weiter füllt und Hubert nervös zwischen Theke, Technikpult und Bühne hin- und herwuselt, um noch die letzten Licht – und Soundtests zu machen. Es ist seine erste Sitzung, die er veranstaltet, weil er glaubt, dass er im Verbund der Kneipenbesitzer des Veedels gemobbt werden würde, wenn er es nicht täte. Hubert hat das aber wohl eher ein bisschen missverstanden. Wir saßen daneben, als Karl vom Biereck nebenan sagte: „Ohne ’ne gescheite Sitzung, bist du kein vollwertiger Mensch.“ Wie auch immer, Hubert hat Bands und Acts und Publikum eingeladen und es ist noch nicht einmal auszuschließen, dass das hier der neue Geheimtipp im Kölner Karneval wird, Hubert reich und berühmt und wir unsere Stammbar aufgrund ständiger Überfüllung los sind. Karneval. Man schmeißt Mariechen in die Luft, fängt bunte Bonbons auf, springt über ein Feuer und kriecht nach Hause. Sieben Tage Ausnahmezustand zum Finale der Session. Oder: saufen, knutschen, grölen, poppen und dem Nubbel die Schuld für all das und alles andere geben. Jeder Jeck wie er will. Und jeder ist jeck. Und ein Jeck. Denn zusammenreißen kann man sich den Rest des Jahres. Jemand anders sein, ein Clown, eine Prinzessin, ein Tier. Oder ein Golfplatz. Je nach Belieben, je nach Kreativität in der Kostümfindung zur Identitätssprengung für diese Trubeltage. Na gut, stelle man sich vor, was das Land mit all den Vorräten an Alkoholika, fettigen Würstchen und Süßkram in der Fastenzeit machen würde ohne Karneval. Das würde ja alles schlecht werden, während es zehrend lang auf Verzehr wartet. Also: Alaaf! Karneval sind wir alle gleich. Außer dem Dreigestirn. Die sind Prinz, Bauer und Jungfrau und bekanntlich steinreich, um das mal sein zu dürfen. Aber wenn ich kein Geld habe, kein Kostüm, keinen Platz auf einem Wagen im Zug, bin ich trotzdem willkommen und bleibe vermutlich nicht ungebützt. Ich glaube, Karneval würde sogar eine Links-Rechts-Dafür-Dagegen-Oderirgendwas-Demonstration in tausendfach starker Besetzung in ihrem Schrei nach Aufmerksamkeit verblassen und so irrelevant werden lassen. Die Jecken würden mit Salafisten, Hundertschaft, Verschleierten und Nazis schunkeln, anstoßen und ihr Aussehen lobend als tolles Kostüm erwähnen. Karneval. Alle jeck. Aber was ist wirklich dieser Spirit? Der Geist des Karnevals? Das muss ich gleich Mone fragen. Während ich noch weiter darüber nachdenke, tut es plötzlich einen lauten Knall und das Licht geht aus. Die Musik auch. Es ist mucksmäuschenstill. Also fast. Hubert schreit laut: „Nein!“, und rennt wie ein aufgescheuchtes Huhn hin und her. Dabei wiederholt er seine Meinung: „Nein, nein, nein!“ Jetzt hat ein Murmeln im Saal eingesetzt und Hubert kriecht Kabel prüfend auf dem Boden an mir vorbei. Es bleibt dunkel. Bis auf ein Feuerzeug, das aus dem Nichts heraus im Raum gezündet wird. Und noch eins und noch eins. Bald brennen zig Feuerzeuge und einer beginnt: „Wat och passeet – dat eine es doch klor – et Schönste, wat m’r han – schon all die lange Johr … “ Zu der einen Stimme gesellt sich eine weitere und noch eine. Schnell singen alle in der Limobar: “ … es unser Veedel, denn he hält m’r zosamme – ejal, wat och passeet – en uns’rem Veedel!“ Mein Sitznachbar legt spontan seinen Arm um mich und wir schunkeln. Die Körpernähe des Fremden macht mir komischerweise jetzt nichts. Ich genieße es, bin gerührt und sehe, dass alle nun schunkeln. DAS ist der Geist von Karneval! Ein großer Mann im Bienchenkostüm geht auf Hubert zu und fragt: „Wo ist der Sicherungskasten? Ich bin Elektriker.“ Hubert zeigt, nun erstarrt und wortlos, in eine Richtung, das Bienchen summt weg und dieser magische Moment wird kurze Zeit später zu Geschichte, als das Licht wieder angeht, die Musik wieder spielt. Und in diesem Augenblick weiß ich, dass es nicht der einzige zauberische Moment dieses Karnevals bleiben wird.

Ich sehe zu Hubert und sehe, dass ihm eine Träne über die Wange läuft. „Hey Hubert!“, rufe ich herüber: „Jetzt ’nen Doppelten!“ Er nickt, schenkt sich einen ein und kippt ihn schnell herunter. Ich lache, doch bleibt mir das Lachen im Halse stecken, als mich völlig überraschend ein sehr bärtiger Mann innig auf den Mund küsst. Das ist zu viel Körpernähe eines Fremden! Ich stoße ihn weg und sehe ihn entsetzt an. Der Mann lacht glucksend mit piepsiger Stimme, zieht den Bart vom Gesicht und sagt: „Und, habe ich was verpasst?“ Ich muss lächeln und erwidere: „Hi Mone! Nein, eigentlich nicht. Komm setz dich hin, es geht gleich los!“

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