Sternschnuppen, laue Abende, und Erfrischungsgetränke, die ihrem Namen alle Ehre machen: Der August ist ein wunderbarer Monat und Suza und ich sitzen schon wieder im Biergarten der Limobar. Schöne Momente sind wichtig im Leben und kein Ding der Welt kann sie ersetzen, denke ich. Suza denkt wohl etwas anderes. Sie schiebt unsere Gläser beiseite, öffnet ihre Tasche und baut stolz sechs Mainzelmännchenfiguren auf dem Tisch vor mir auf.
„Fein“, sage ich, recht teilnahmslos. „Die Mainzelmännchen.“
„Habe ich geerbt“, erwidert Suza.
„Na dann hast du ja ausgesorgt. Sind ja antik.“
Suza sieht mich schräg an: „Sind die was wert?“
„Nicht wirklich“, antworte ich. „Weitestgehend wohl nur die Erinnerung an die Person, von der du sie vererbt bekommen hast.“
Suza nickt und schweigt eine Weile. Sie nimmt einen Schluck Limo und rülpst leise. Dann hat sie ihren Gedanken abgeschlossen und enthält ihn mir nicht vor: „Wenn ich ein Ding von jemanden ansehe, denke ich an die Person …“
Ich überlege kurz, wegen der Anmutung einer perversen Doppeldeutigkeit dieser Aussage zu intervenieren, verzichte dann aber doch darauf und höre Suza sagen: „So wie, dass man beim Essen immer an noch ganz anderes Essen denkt …“
„Oder an Verdauung …“, werfe ich ein. Suza fährt unbehelligt fort: „Und bei Photos an die Vergangenheit. Und beim Aufstehen an Kaffee.“
„Oder beim Sex an jemand anderen …“ Auch diesen Kommentar lässt Suza einfach so stehen und folgt weiter ihren Gedanken: „Dinge sind zwangsläufig mit Dingen verknüpft. Wobei die Dinge nicht unbedingt Dinge sein müssen. Sondern auch Gedanken sein können. Am Geburtstag denkt man auch nur den ganzen Tag daran, dass man Geburtstag hat.“ Jetzt trinke ich einen Schluck und muss rülpsen. Die Limo hat offensichtlich viel Gas heute. Ich lasse mich auf Suzas Gedanken ein: „Am Geburtstag denken aber auch alle anderen an dich. Die, die dir lieb und teuer sind und umgekehrt. Das Gute am Geburtstag ist aber, dass man ganz viel im Hier und Jetzt ist. Es geht genau um diesen Tag. Jetzt. Und durch all die Meldungen bleibt man im Jetzt bei sich und freut sich über das, was passiert. Und passieren tun all die Meldungen. Das ist schön. Bei den Erinnerungsdingen denkt man aber an die Vergangenheit. Und dann stößt man vielleicht auf Verletzungen, die immer noch weh tun.
Suza lächelt mich gutmütig an: „Ja, aber das haben wir doch gelernt: Die Vergangenheit soll einem nicht mehr weh tun, weil man sie eh nicht ändern kann und Ängste sollen wir nicht haben, weil sie nur über die Gedanken an die Zukunft entstehen. Über zukünftige Dinge, die noch nicht passiert sind und vermutlich auch nicht passieren werden.“
Ich hebe mein Glas, Suza tut es mir gleich, wir stoßen an und trinken einen tiefen Schluck, warten beide bis wir simultan rülpsen müssen und ich setze unseren Gedankenaustausch fort: „Ich habe aufgehört, Dinge zu sammeln. Sie stauben zu. Sie erinnern mich an Dinge, die vorbei sind. Und wenn ich nicht mehr bin, lässt sich diese Bedeutung der Dinge nicht vererben. Selbst wenn mich, zum Beispiel, ein Stofftier an die Wärme, die Leichtigkeit, die Liebe zu jemanden denken lässt und ich es für den Moment spüren kann, wie damals, so werden meine Enkel nur denken, dass das ein verranztes, altes, zerstrubbeltes Stoffdings ist.“
„Oder sie werden es in Ehren halten, weil es sie an ihre Oma denken lässt“, erwidert Suza.
Ich nicke: „Ja, das stimmt. Aber dann reicht ein Ding pro Person, oder? Vielleicht hat es ja mit dem Alter zu tun, aber je älter ich werde, umso mehr denke ich, dass mir die Momente wichtiger sind, als und ohne die Dinge.“
Suza stellt die Mainzelmännchen in eine andere Reihenfolge und richtet sie präzise so aus, dass sie mich anwinken. Ich winke zurück.
Hubert kommt mit zwei neuen Gläsern herbeigeeilt und ist ganz aufgeregt, als er die Mainzelmännchen sieht: „Oh! Wie schön die Mainzelmännchen! Mein Vatter hatte solche! Als ich klein war, haben wir damit gespielt und als ich älter war, hat er sie auf den Tisch gestellt und gesagt: So, jetzt gibt’s für jeden Mann und jedes Männchen einen Doppelten!“
Suza und ich sehen uns mit einem „Das erklärt einiges“-Blick an. „Und wo sind sie jetzt?“, frage ich Hubert.
„Sie sind verbrannt. Alles ist verbrannt. Das ganze Haus. Mein alter Herr auch. Aber das ist ok. Ich trage ihn ja in meinem Herzen und das erinnert mich manchmal auch an ihn.“
Ich sehe auf Suzas Augen, die mitleidig Hubert anschauen und weiß, was sie jetzt tun wird: Sie greift die Männchen und drückt sie in Huberts große Wirtshände. „Hubert, ich schenke sie dir! Ich habe noch etwas anderes, was mich an die Person erinnert, von der ich die Männchen habe.“
Hubert ist überglücklich. So habe ich seine Augen selten strahlen sehen. Er küsst die Mainzelmännchen, dann Suza und ehe wir uns versehen, ist er in die Limobar geeilt und mit drei Schnaps zurückgekehrt, von denen er uns zwei auf den Tisch stellt. Suza und ich lächeln uns an. Den werden wir trinken, es ist kein Doppelter.
„Auf deinen Vater!“, sagt Suza, „Was ein schöner Moment. An den werden wir uns erinnern!“, füge ich hinzu und wir trinken, mit uns und der Welt für den Augenblick sehr zufrieden, die Gläser aus.
Und als der Abend zuende geht, verlassen wir die Limobar. Zurück bleiben, einsam auf dem Tisch, die zwei Schnapsgläser, die wir für die Erinnerung nicht brauchen. Naja, zumindest ein Glas bleibt zurück. Als ich mich noch einmal umschaue, habe ich den Verdacht, dass Suza ihr Gläschen doch in die Tasche gesteckt hat.