„Weißt, du, warum ich das Dschungelcamp gucke, Suza?“ Ich überfalle sie direkt mit dieser rhetorischen Frage, als sie sich zu mir setzt. Heute bin ich pünktlich, überpünktlich sogar. Und das liegt vor allen Dingen daran, dass ich beschlossen habe, meine Tugend Pünktlichkeit nicht zerstören zu lassen. Vor allen Dingen nicht von etwas, das nicht einmal greif- oder kuschelbar ist oder mit www beginnt. Ein bisschen liegt es auch daran, dass ich von einem anderen Termin komme und der zu früh zu Ende war. Die Zeit bis Suza hier aufschlug, habe ich damit verbracht, auf mein Handy zu gucken und im Internet zu surfen.
„Sprich!“, spricht Suza und setzt sich, während Hubert ihr ein Getränk bringt. Ich lege los: „Also, im Prinzip verstehe ich, wenn sich Menschen diesem ganzen Trash-Fernsehen verweigern und noch nicht einmal gut bis schlecht geschriebene Kommentare darüber auf sozialen Plattformen jedweder Art, also vom Pausenhof über die Tageszeitung bis zu Facebook, lesen wollen. Voyeurismus, Ausbeutung sogenannter, naiver Protagonisten zur Belustigung des gemeinen, dummen Volkes, das sich vor Schadenfreude nur so biegt. Von schlecht gescripted bis hin zu: Hätte der seine Worte mal besser scripten lassen, dann wäre es nicht so peinlich gewesen. Zumindest, wenn die Autoren vom Dschungelcamp dahinter gesteckt hätten. Das Dschungelcamp spielt mit den Massen und die Massen mit den Bewohnern. Zumindest meinen Massen von Menschen das. Ein weiterer Grund, warum sie einschalten und anrufen. Vielleicht glauben auch noch ein paar, dass sie die 5000,-€ gewinnen können und ihr Name dann im Fernsehen eingeblendet wird, aber diese Menschen halten vermutlich auch ihre Gewinnchancen beim Lotto für sehr hoch, besonders wenn sie gerade mal wieder Pech in der Liebe haben. Die Moderatoren können die Wahl des nächsten Prüfungsanwärters extrem beeinflussen, die Insassen werden gar nicht in die Sendung geschnitten, wenn sie nett, freundlich, loyal, menschlich und gelassen sind. Zu langweilig. In all den Jahren haben immer noch nicht alle Urwaldcamper verstanden, dass sie polarisieren müssen, um zu gewinnen, oder versagen und sich wild sträuben und leiden, um ganz sicher auch in die nächste Prüfung gewählt zu werden. Es ist jedes Jahr das Gleiche, nur mit anderen Köppen, die aber auch alle irgendwie gleich sind. Also austauschbar. Und ich gucke trotzdem gerne das Dschungelcamp! Weiß Du warum?! Weil mir Dirk Bach fehlt. Solange ich diese Sendung gucke, denke ich an Dirk Bach. Ein bisschen kann man noch seine Stimme hören und fast ein bisschen daran glauben, dass er jeden Moment dalbernd über die Brücke kommt. Manchmal denke ich, man hört irgendwann auf, an die Toten zu denken. Ja ich weiß, das Große und Ganze zu sehen geht nicht auf Dauer und ständig und man muss sich wieder um die kleinen Widrigkeiten des eigenen Alltags kümmern. Zumindest solange bis es dich dann selbst zerreißt und du dich da oben neben Loriot, Reich-Ranicki und Dirk Bach setzen kannst, um mit ihnen das Dschungelcamp zu gucken. Das Leben ist nicht fair, oder? Vielleicht ist es das Jenseits.“
Suza sieht mich schweigend an. Ich sage auch nichts, hab ich ja schon zur Genüge getan. Nach einer Weile ergreift Suza das Wort: „Mein Buch kommt im April raus.“ – „Du kannst schreiben?“, erwidere ich erstaunt. „Nein“, sagt sie, „es ist ein Buch, das jemand über mich geschrieben hat. ISBN: 978-3897413733.“ – „Du hast dir die ISB-Nummer gemerkt? Warum, zur Hölle?“ Jetzt bin ich baff. Suza erklärt es mir: „Ich kann mir doch sonst nichts merken. So wie unsere ganze Generation sich nichts mehr merken kann. Da habe ich die Nummer auswendig gelernt. Weil es was Gutes ist. Und Gutes soll man nicht vergessen.“ Dem stimme ich zu, auch wenn ich denke, dass es die Sache an sich auch getan hätte und dafür nicht unbedingt das Merken der Nummer vonnöten gewesen wäre. Auf jeden Fall freue ich mich für Suza. Das Leben kann wohl auch fair sein. Schweigend sitzen wir uns gegenüber, denken an Dirk Bach und schlürfen leise unsere Drinks. Wobei: vielleicht denke nur ich an Dirk Bach, weil es sein könnte, dass Suza schon wieder vergessen hat, worüber ich eben noch sprach. Macht nichts. Hauptsache sie vergisst mich niemals in der Limobar. Solange ich lebe.
Hubert ist völlig irritiert über die ungewohnte Stille und schreit herüber: “Mädels?! Jetzt ‘nen Doppelten?” Wir erwachen aus unserer Starre und rufen wie aus einem Munde zurück: “Nein danke, Hubert! So schlimm ist es noch nicht!”
Und ich habe sogar die isbn nachgeschlagen…